Als meine Mutter erzählte, sie wolle sich mit ihren 60 Jahren auf einen neuen Job bewerben, hatte sie meinen vollsten Respekt. Einmal für die Tatsache, sich kurz vor der Rente noch einmal dem Bewerbungs-Drama auszusetzen. Hauptsächlich aber dafür, sich im Laufe dieses Prozesses womöglich eine Absage nach der anderen einzufangen. Ich höre sie noch sagen: "Probieren kann ich’s ja mal. In meinem Alter wird mich wahrscheinlich eh niemand mehr anstellen." Wir lagen beide falsch. Bereits die erste Stelle wollte sie. Die zweite wurde es.

Seit gut einem halben Jahr gehe ich von einem Vorstellungsgespräch zum nächsten, schicke unzählige Bewerbungen raus. Ich bin bereit für die Arbeitswelt. Frisch aus dem Studium, ich habe etliche Praktika gemacht und Weiterbildungen durchlaufen. Ich dachte, meine Chancen auf den Traumjob stünden nicht schlecht. Anscheinend hatte ich die Rechnung ohne meine Mutter gemacht. Wie kann es sein, dass sie so schnell einen Job bekommt, ich jedoch nicht?

Deshalb hat Mama auf dem Arbeitsmarkt Chancen

43 Jahre, so alt ist der deutsche Arbeitnehmer im Schnitt. Und der Altersdurchschnitt wird in den nächsten Jahren weiter wachsen. "Die Erwerbstätigenquote der 55- bis 65-Jährigen ist in den vergangenen zehn Jahren stärker gestiegen als die der 15- bis 65-Jährigen", heißt es in dem aktuellen Arbeitsmarkt-Bericht der Bundesagentur für Arbeit.

Das liegt etwa daran, dass Menschen immer älter werden: Ende des 19. Jahrhunderts lag die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland zwischen 45-50 Jahren, seither hat sie sich fast verdoppelt. Laut der Generationensterbetafel des Statistischen Bundesamtes wird ein neugeborener Junge durchschnittlich 86,4 Jahre alt, Mädchen noch mal vier Jahre älter.

Josef Hecken, ehemaliger deutscher Staatssekretär für Familie, Senioren, Frauen und Jugend prognostizierte schon vor Jahren, dass die Altersstruktur sich einschneidend verändern wird. Diese Veränderung soll ihren Höhepunkt im Jahr 2024 erreichen. Demnach werde das Potenzial von Berufstätigen zu 40 Prozent aus 30- bis 50-Jährigen und zu 40 Prozent aus 50- bis 65-Jährigen bestehen. Nur noch 20 Prozent der Beschäftigten werden unter 30 Jahre alt sein. Der Großteil der Arbeitswelt wird demnach von Menschen getragen, die älter sind als ich – unter anderem von meiner Mutter. Eine logische Konsequenz aus dieser Vorhersage müsste sein, dass Unternehmen vermehrt auf eine Alters-Diversität in Teams setzen. Doch viele ältere Menschen zweifeln daran, dass sie überhaupt noch jemand einstellen würde.

Die letzten Bewerbungsunterlagen meiner Mutter trugen noch eine fette Staubschicht und das Datum 1999, als sie mich bat, ihr beim "modernen Aufmotzen" zu helfen. Das Anschreiben auf die Stellenanzeige "Job für ältere Bürokraft" begann sie mit den Worten: "Mit meinen 'älteren 60 Jahren' möchte ich mich neuen Herausforderungen stellen, um meine Kenntnisse und Fähigkeiten anzuwenden."

Meine Mutter und ich bewegen uns in grundverschiedenen Branchen – sie arbeitet mit Zahlen, ich mit Worten. Doch unsere auffälligste Differenz im Lebenslauf ist das Geburtsjahr, das in Fettschrift zwischen Namen und Geburtsort prangt. In diesen acht Zahlen steckt mehr Gewicht, als wir uns womöglich vorstellen können. Zwischen meiner Mutter und mir liegen immerhin über 30 Jahre Lebenszeit – und Lebenserfahrung.

Generationen treffen aufeinander – und das ist gar nicht schlimm

Durch unseren Altersunterschied sind wir mit unterschiedlichen Wertvorstellungen aufgewachsen. Meine Mutter zählt zur Generation der Baby-Boomer, aufgewachsen in einer fluktuierenden Wirtschaft. Sicherheit, Wohlstand und eine hohe Leistungsbereitschaft sind nur einige Merkmale der von 1946 bis 1964 Geborenen. Die Generation Y, in die ich mich mit Jahrgang '90 einordnen lasse, ist geprägt von der idealistischen und freigeistlichen Idee, Beruf und Privatleben zu vermischen – oder eben direkt das Hobby zum Job zu machen. Nun prallen auf dem Arbeitsmarkt diese beiden Welten aufeinander. Bedeutet das nun einen Nachteil für mich oder für meine Mutter?

Wie kann das gelingen? "Indem man die Chancengleichheit verbessert", sagt Ines D., die seit über 15 Jahren in einer Digitalagentur für die Personal-Rekrutierung zuständig ist. Sie weiß, dass man eine Unternehmenskultur der Offenheit benötigt, der gegenseitigen Wertschätzung und Toleranz, damit altersgemischte Teams erfolgreich sind. Darüber hinaus: "Jeder muss sich ohne Angst vor Blamage und ohne sich verstellen zu müssen, einbringen können. Ältere Mitarbeiter ihre Erfahrung, Know-how und Gelassenheit und jüngere Mitarbeiter die neueste Software, Risikofreude und Unbekümmertheit", sagt die Personalerin.

Wer Jung und Alt im Team mischt, fördert demnach Innovationen und Wettbewerbsfähigkeit. Die frische Herangehensweise der jungen Mitarbeiter und das Wissen der Älteren bringen dem Unternehmen entscheidende Vorteile. Meine Mutter ist zwar kein Digital Native, dafür kann sie mit Erfahrung und Empathie punkten. Das war auch für ihren neuen Arbeitgeber eine wichtige Voraussetzung. "Im Bewerbungsgespräch wurde kaum über die Arbeit gesprochen", sagte mir meine Mutter. "Wir haben schnell gemerkt, dass die Chemie stimmt, und das war für uns beide das Wichtigste."

Erfolg ist keine Frage des Alters

Im Diversity Management ist das ein wichtiger Kerngedanke. Nämlich auch Soft Skills und soziale Kompetenzen in den Blick zu nehmen, die nicht aus Schulzeugnissen und Referenzen direkt abzulesen sind. Vom Geburtsjahr mal ganz abgesehen.

Das Risiko, aufgrund des Alters auszuscheiden, ist in einem Land, in dem das Alter im Lebenslauf genannt werden muss, wie bei uns in Deutschland, natürlich um einiges höher. Aber der Wertewandel wird in den Köpfen der Personaler ankommen, prophezeit eine Kommission der Hans-Böckler-Stiftung zur "Arbeit der Zukunft". Unterschiedliche Wertesysteme aus unterschiedlichen Generationen – beides brauchen Firmen. Das Fördern von Altersvielfalt in Teams ermöglicht nicht nur eine positive Diversitäts-Kultur, sondern auch neue, vielseitige Ideen.

Im Bewerbungsgespräch hat man zu meiner Mutter gesagt: "Das Menschliche muss stimmen, alles andere kann man lernen". Das ist zwar nicht in Stein gemeißelt, aber in gewisser Weise stimmt das. Für mich überwiegt nun eine Erkenntnis: Meine Mutter ist nicht zu alt für den Arbeitsmarkt. Sie steht auch nicht in direkter Konkurrenz mit mir. Wir ergänzen uns – und das ist eine viel schönere Vorstellung.
(https://www.stern.de/neon/vorankommen/karriere/arbeitsmarkt--ist-mama-in-zukunft-meine-groesste-konkurrenz--8468560.html)

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